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Mythos: Beinlängendifferenz & Beckenschiefstand

Schon mal gehört?

„90% der Bevölkerung hat einen Beckenschiefstand! Ein Beckenschiefstand sollte unbedingt korrigiert werden. Die Korrektur Ihres Beckenschiefstands wird Ihre Schmerzen lindern. Schmerzen durch unterschiedlich lange Beine…“.

Ist dem so? Haben denn so viele Menschen einen Beckenschiefstand bzw. eine damit einhergehende Beinlängendifferenz? Wie wahrscheinlich ist es, dass dies für körperliche Beschwerden die verantwortliche Ursache ist? Sollten Beckenschiefstände, bzw. Beinlängendifferenzen wirklich immer korrigiert werden?

In den Folgenden Absätzen haben wir hierzu ein paar aufklärende Worte, unter Berücksichtigung mehrerer Studien, zusammengefasst.

Fakten zum Auftreten der Beinlängendifferenz

Die „Beinlängendifferenz“ ist ein in der Bevölkerung häufig vorkommender orthopädischer Zustand. Ihre Häufigkeit liegt bei 90% (1,2). Die Differenz der Beinlängen liegt meist unter 10mm und verläuft asymptomatisch bzw. wird von den betroffenen Personen ohne auftretende Beschwerden kompensiert (3). 

Ist eine Beinlängendifferenz immer gleich eine Beinlängendifferenz?

Hier kann man ganz klar sagen NEIN! Es ist wichtig zu unterscheiden, ob es sich um eine strukturelle oder eine funktionelle Beinlängendifferenz handelt.
Strukturelle bzw. anatomische Veränderungen betreffen den Knochen. Sie sind entweder von Geburt an vorhanden, entstehen im Laufe des Lebens durch Wachstumsschübe oder, nach Abschluss des Wachstums, durch Operationen.
Die funktionelle Beinlängendifferenz entsteht durch Verkrampfungen der Muskulatur, Gelenks-/Muskelkontrakturen (Verkürzungen) oder durch fehlende Stabilisation der Beinachse bei Muskelschwäche (4). Vergleicht man das Auftreten beider Arten, ist die strukturelle bzw. anatomische Beinlängendifferenz die häufigste Form. 

Kann man eine Beinlängendifferenz ohne weiteres feststellen?

Die anatomische Beinlänge ist therapeutisch messbar. Hierbei misst man von einem Beckenvorsprung (spina iliaca anterior superior) zum inneren oder äußeren Knöchel(4). Allerdings sollte man folgendes berücksichtigen: Das messen mit einem Maßband kann Abweichungen von bis zu 5 mm beinhalten (5). Fehlerquellen beim Messen mit dem Maßband sind: Höhenunterschiede vom knöchernen Becken, Schwierigkeiten knöcherne Anteile durch die Weichteile zu spüren, knöcherne Deformitäten, die Beweglichkeit der Haut (6) uvm. All diese Faktoren sorgen dafür, dass die Messungen bzw. Untersuchungen mit dem Maßband nicht sehr verlässlich sind. Wie also eine anatomische von einer funktionellen Beinlängendifferenz unterscheiden?

Um also absolut zuverlässig eine anatomische von einer funktionellen Beinlängendifferenz zu unterschieden, kommt nur eine Röntgenaufnahme im Stand in Frage. Hier sollte man sich nun allerdings folgende Frage stellen: Macht es wirklich Sinn, sich dieser Strahlenbelastung auszusetzen, wenn 90% der Bevölkerung eine Beinlängendifferenz hat, die häufig unter 10 mm liegt und vom Körper problemlos kompensiert wird?

Wann wird eine Beinlängendifferenz bzw. ein damit einhergehender Beckenschiefstand problematisch?

Strukturelle Differenzen größer als 10 mm stehen im Zusammenhang mit Abnutzungen der Facettengelenke der LWS und knöchernen Veränderungen im Bereich des unteren Rückens bzw. einer funktionellen Skolliose (7). Bei einer Differenz zwischen 15-20 mm werden häufig Einlagen in oder unter dem Schuh angebracht. Physiotherapie ist nur indiziert, um muskuläre Dysbalancen aufzutrainieren und/oder zur Muskelentspannung. Chirurgische Korrekturen sind ab einen Unterschied von 20 mm (1,2,8) indiziert. Differenzen zwischen 20 und 50 mm werden häufig korrigiert durch eine Kürzung des längeren Beines. 

Fazit

Die therapeutische Behandlung von Menschen, die unter einer Beinlängendifferenz bzw. einem Beckenschiefstand leiden, macht in den meisten Fällen nur Sinn, wenn die Wachstumsphase noch nicht abgeschlossen oder die Beinlängendifferenz funktionell ist (hier liegt die magische Grenze bei 10 mm, größere Differenzen als 10 mm werden entweder durch einen Schuherhöhung oder Operation ausgeglichen.)

Man sollte sich dessen bewusst sein, dass eine Beinlängendifferenz oder ein Beckenschiefstand nicht per se einer Korrektur bedarf und sich immer vor Augen führen, dass Differenzen bis zu 10mm problemlos vom Körper kompensiert werden können. Der Mensch ist nicht symmetrisch aufgebaut und unsere Körperhälften sind durchaus in Teilen unterschiedlich. Eine (Über-) Korrektur von „harmlosen Schiefständen/Differenzen“ kann sogar das Gegenteil des gewünschten Erfolges erzielen. Grundsätzlich gilt, dass die Zahl der Korrekturen von Beckenschiefständen/Beinlängendifferenzen, welche als vermeintliche Ursache für bestehende Beschwerden erkannt wurden, in keinem guten Verhältnis zur Anzahl der tatsächlichen Erfolge stehen.

 

 

 

Literaturverzeichniss:

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